An der Wirklichkeit vorbei

Umezulike, Trahm

Leckere Mahlzeiten trotz leerer Geldbörse

Leserbrief zum Artikel „Leckere Mahlzeiten trotz leerer Geldbörse“ vom 4.9.2009

Schon der Titel dieses Berichts geht leider an der Wirklichkeit von Hartz4-Beziehern vorbei.
Es trifft durchaus zu, dass „ein  leckeres und gesundes Essen nicht unbedingt viel kosten (muss)“. Wer allerdings glaubt, dass man mit dem Hartz-4-Regelsatz  und den an den Tafeln ausgegebenen Zutaten ohne weiteres ein solches zubereiten könne, der hat es wahrscheinlich noch nicht selbst - und zwar über längere Zeit - ausprobiert.
Denn frische hochwertige Zutaten kosten oft wesentlich mehr als verarbeitete Nahrungsmittel und Fertiggerichte, von Bioprodukten ganz zu schweigen.
Der Regelsatz (RS) eines Alleinstehenden sieht für ‚Ernährung’ (Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke) 114,44 € im Monat vor, das sind 3,85 € am Tag.
Für  Kinder sind bei einem RS von 211 € (bis 13 Jahre) und 282 € (14-24 Jahre) 69,26 €  bzw. 92,35 € im Monat für Ernährung vorgesehen  Damit wird der Tagesbedarf eines Kindes unter 14 auf 2,31 € angesetzt (schon ein Mittagessen in der Ganztagsschule kostet übrigens mehr!), für den eines Jugendlichen sind 3,08 € vorgesehen. (Die Zahlen beziehen sich auf 2008  - seit 1.7.09 wurde der Eckregelsatz um ganze 8 € erhöht; dass das keinen wesentlichen Unterschied macht, kann man sich denken).
Berücksichtigt man die Preissteigerungen, haben Hartz4-Bezieher heute fast 10 % weniger zu essen als 1990 (siehe: www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2008/RegelsatzRoth.aspx).
Das überrascht nicht, wenn man die Tagessätze mit den Preisen für frisches Obst und Gemüse, für Joghurt, hochwertige Käse- und Fleischerzeugnisse oder Fisch vergleicht. Offenbar ist es unter solchen Bedingungen Hartz4-Opfern kaum möglich, ein gesundes, leckeres Essen zuzubereiten, das vielleicht auch noch ansatzweise den eigenen Bedürfnissen und Vorlieben entspricht (denn wer hat schon immer Lust auf Kartoffeln, Möhren, Tütenbrot und eingeschweißten Gouda?). Mal Freunde zum Essen einzuladen ist so schon gar nicht möglich, reicht der Regelsatz doch kaum für den sozial zunehmend isolierten einzelnen Hartz4-Betroffenen. 
Auch ist es ein Irrtum zu glauben, an den Tafeln erhielten Hartz4-Bezieher zum Großteil Dinge, die ihnen tatsächlich im Kühlschrank oder Vorrat fehlen – vielleicht gibt es wieder mal keine Milch, auch Brot war heute zu wenig, der Salat ist welk, der Vorgänger bekam die letzte Tomate und bei den Joghurts ist nur noch die seltsame Sorte übrig, die schon die Normalkunden im Supermarkt nicht mochten.
Bei solcherart zufällig zusammen gewürfelten Zutaten, halbtoten Gemüseresten und extrem eingeschränkten eigenen finanziellen Möglichkeiten reicht auch eine enorme Portion Kreativität kaum aus, um daraus ein gesundes Essen zu kochen, das vielleicht auch noch den Kindern schmeckt. Und selbst ihre Kreativität kommt vielen Hartz4–Betroffenen, da von den meisten Möglichkeiten der kulturellen Partizipation und Selbstentfaltung ausgeschlossen, irgendwann abhanden.
So ist es sicherlich ein ehrenwertes Anliegen, einen Kurs in ‚Küchenfitness’ anzubieten, um auch Menschen mit geringen Einkommen ganz neue Kochkünste zu vermitteln – es sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine gesunde und individuellen Bedürfnissen entsprechende Ernährung im Hartz4-System für die Betroffenen nicht vorgesehen ist.
Sobald dann der Regelsatz wegen irgendwelcher angeblicher Verstöße oder mangelnder Mitwirkung im Unrechtssystem auch noch gekürzt oder gar ganz gestrichen wird, geht es ohnehin nur noch ums nackte Überleben.

Elisabeth Umezulike, Warstein
Burkhard Trahm, Lippstadt