Von der Produktivität des Durcheinanders oder 'Celebrate diversity'

Elisabeth Umezulike

Bericht über die vom Kreis Soest durchgeführte Inklusionstagung am 8. Februar 2012

Bericht über die vom Kreis Soest durchgeführte Inklusionstagung am 8. Februar 2012

Von der Produktivität des Durcheinanders oder 'Celebrate diversity'

„Inklusion – Herausforderung und Chance für Erziehung und Bildung“ - so lautete der Titel einer am 8. Februar vom Regionalen Bildungsbüro des Kreises Soest organisierten Fachtagung, die sich an MitarbeiterInnen der Verwaltung, KommunalpolitikerInnen und Beschäftigte im Erziehungs- und Bildunsgbereich wandte.  Als Referenten waren Reiner Limbach, Beigeordneter des Landkreistags NRW, Hans Meyer, Jugenddezernent im LWL und Prof. Dr. Hans Wocken, emeritierter Professor für Lernbehinderten- und Integrationspädagogik der Universität Hamburg, eingeladen. Während Reiner Limbach die Auswirkungen der im März 2009 in Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auf die Kreise in NRW beleuchtet, betrachtet Hans Meyer die Bedeutung des Inklusionsgebots auf die Jugendhilfe im Hinblick auf die Konsequenzen der mit der Ratifizierung der UN-BRK eingegangenen gesetzlichen Verpflichtung, Menschen mit Behinderung gleichberechtigten Zugang zu allen gesellschaftlichen Bereichen, ihre uneingeschränkte Teilnahme und ihre Einbeziehung in die Planung und Gestaltung öffentlichen Lebens zu gewährleisten. Im Unterschied zum vertrauten Begriff der Integration, der beinhaltet, dass Behinderte gewissermaßen 'passender' gemacht werden müssen, um Teil des Systems zu werden, stellt das Konzept der 'Inklusion' (lat.includere = beinhalten, einschließen) die Forderung an das System, sich auf alle Bedürfnisse einzustellen und sich so zu verändern, dass alle Menschen hineinpassen können – und zwar so wie sie sind. Das Recht auf Inklusion besteht laut UN-BRK von Geburt an und bezieht sich auf alle Lebensbereiche, von der frühkindlichen Förderung über Kindergarten, Schule und Berufsausbildung bis hin zur Teilnahme am kulturellen und politischen Leben. Es zielt auf die Befähigung zu selbstbestimmtem Handeln (Empowerment) und gesellschaftlicher Teilhabe von Behinderten aller Altersstufen. Entsprechend ist auch die Kommunalpolitik gefordert, eine kommunale Teilhabeplanung in allen Bereichen unter Einbeziehung der Betroffenen anzustreben und nicht, wie bisher,  in die noch nicht einmal obligatorischen Behindertenbeiräte ausgelagert. Statt dessen müssen die Anliegen und Bedürfnisse Behinderter von vornherein bei der gesamten kommunalen Planung berücksichtigt werden.  Dass bei den sich daraus ergebenden Verpflichtungen für die Kommunen das Konnexitätsprinzip beachtet werden muss, d.h. die Finanzierung der kommunalen Aufgaben auf dem Weg zu einer umfassend 'inklusiven Gemeinde' durch Bund und Länder gewährleistet sein muss, damit 'Inklusion' nicht als eine weitere finanzielle Belastung der ohnehin ausgebrannten Kommunen empfunden wird, darauf weist Reiner Limbach deutlich hin. Aber nicht nur die befürchteten Kosten, auch die bisher nicht vorhandene positive Grundhaltung zur Inklusion stellt ein Hindernis auf dem Weg dahin dar. So betont Hans Meyer, dass die Voraussetzungen für gelingende Inklusion von Anfang an geschaffen werden müssen, damit das Zusammenleben behinderter und nicht-behinderter Menschen als Normalität wahrgenommen wird. Dafür sei nicht nur die Qualifizierung aller Beteiligten dringend geboten, sondern auch als eine der ersten Maßnahmen die schrittweise Abschaffung der Sonderkindergärten. Gemischte Kindergartengruppen müssen (für Eltern, Kinder und BetreuerInnen) ebenso 'normal' sein wie etwa Freizeit- und Ferienangebote, die sich an Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gleichermaßen richten.  Diese gebe es bisher allerdings nahezu gar nicht. Insgesamt, so Meyer weiter, lasse der Stand der Inklusion in der Jugendarbeit sehr zu wünschen übrig, gemeinsame Aktivitäten seien hier die absolute Ausnahme, denn noch fehle es an Fachkräften, an Fortbildungen für Ehrenamtliche, an Mitteln und Konzepten... kurz an allem, was die Voraussetzungen für gelingende Inklusion in der Jugendarbeit schaffen könnte. In seinem Resumée fordert Meyer denn auch dringend klarere gesetzliche Regelungen - auch bezüglich der Finanzierung - , die Bereitstellung von Qualifizierungs- und Fortbildungsmaßnahmen für die mit der Umsetzung von Inklusion Betrauten sowie bessere Kommunikationsstrukturen und gemeinsame Planungen der beteiligten Behörden. Doch der erste und wichtigste Schritt, so Meyer, sei eine Änderung der  bisher skeptischen Grundhaltung in Politik und Gesellschaft gegenüber der Inklusion. 

Dafür, dass in den Köpfen etwas in Bewegung kommt, hat Hans Wocken mit seinem leidenschaftlichen und einfühlsamen Vortrag – einem uneingeschränkten Plädoyer für Inklusion im Bildungssystem und in der Gesamtgesellschaft – sicherlich einen wichtigen Beitrag geleistet.Pädagogik, so stellt Hans Wocken gleich zu Beginn heraus, heißt in erster Linie „Annahme von Kindern“ - so wie sie sind. Ein großes historisches Vorbild in dieser Hinsicht ist der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi, der schon 1799 in seinem Stanser Brief die Heterogenität seiner Schüler nicht beklagte, sondern als Vorteil beschrieben hat: „Die Menge der Ungleichheit der Kinder erleichterte meinen Gang“, heißt es da. Mit der aus der UN-BRK resultierenden Forderung an die Pädagogik sich auf 'Ungleichheit' einzustellen und diese positiv zu bewerten, sei auch, hebt Wocken gleich zu Beginn hervor,  ein zentrales gesellschaftspolitisches Anliegen verknüpft. Eine „Schlüsselqualifikation“ für eine erfolgreiche Friedenserziehung sei nämlich, dass wir  „miteinander können“.  Das muss gelernt werden und zwar so früh wie möglich, denn nur so kann die Pädagogik dem bekannten und von Wocken zitierten Diktum Adornos gerecht werden, dass die 'allererste' Forderung an Erziehung sei, eine Wiederholung von Auschwitz zu verhindern. In einem Überblick über fünf verschiedene grundlegende Reaktionsmuster von Gesellschaften auf die Verschiedenheit von Kindern unterstreicht Wocken den großen historischen Verdienst von Sonderschulen, stellten diese doch immerhin einen Fortschritt im Umgang mit behinderten Kindern dar.  Auf der untersten Stufe gesellschaftlicher Reaktionen auf Behinderung befindet sich das Reaktionsmuster der 'Extinktion' mit der von den Nazis vertretenen 'Theorie des lebensunwerten Lebens', die behinderten Menschen nicht einmal ein Recht auf Leben, geschweige denn auf Bildung, zuschrieb; die furchtbaren Konsequenzen sind bekannt. Ein zweites Reaktionsmuster führt zur ' Exklusion' von Behinderten aus dem Bildungssystem, gegründet auf die Überzeugung ihrer 'Bildungsunfähigkeit'.  Dieses, erklärt Wocken, sei das bis heute am meisten verbreitete Muster, denn weltweit besuchen 90% der behinderten Kinder überhaupt keine Schule.  Somit bestand in der Idee der Segregation ( 'Zwei-Schulen-Theorie') und der anschließenden Einrichtung von Sonderschulen um 1900,  insofern ein Fortschritt, als dass auch Kindern mit Behinderung erstmalig ein Recht auf Bildung zugestanden wurde. Die Aussortierung von Kindern mit Behinderung in eine eigene Schule beruhte dabei auf dem Konstrukt einer 'Sonderschulbedürftigkeit' dieser Kinder.  Dieses Begriffsmonstrum ist Ausdruck einer innerhalb des letzten Jahrhunderts entstandenen Spaltung im Kopf, für die es allerdings, betont Wocken, keine Entsprechung in der Realität gebe. Anders ausgedrückt: Es gibt zweifellos Kinder, die einer Sondererziehung bedürfen, die Idee einer 'Sonderschulbedürftigkeit' sei jedoch „Quatsch“, so Wocken wörtlich.  Einen Schritt weiter in die richtige Richtung gehe das vierte Reaktionsmuster mit der Idee der 'Integration'.  Dieses basiert auf der 'Zwei-Gruppen-Theorie' (Behinderte und Nichtbehinderte) und geht davon aus, dass versucht werden muss, einen behinderten Menschen unter Verwendung von Hilfsmitteln und Begleitpersonen dem System  anzupassen – bis er oder sie eben 'hineingeht'. In diesem Zusammenhang wird selbstverständlich angenommen, dass eine gewisse 'Integrationsfähigkeit' gegeben sein muss, die eben nicht alle Behinderten aufweisen. Ganz anders hingegen stellt sich das Verhältnis von System und Einzelnem im Konzept der 'Inklusion' und der zugrunde liegenden 'Theorie der egalitären Differenz' dar. Hier ist es nicht das Kind, sondern das System, das sich anpassen muss, um ein jedes Kind 'einschließen' oder 'umfangen' zu können. Die Gesellschaft bzw die jeweiligen Teilsysteme müssen 'Inklusion' ermöglichen, sich darum bemühen, nicht der einzelne Behinderte.  Das bedeutet, dass ausnahmslos alle Kinder willkommen sind, keines gilt als 'inklusionsunfähig'. 'Ja, der Begriff an sich ist unsinnig, da  Inklusion eben nicht vom einzelnen Menschen, sondern vom  (Bildungs)System geleistet werden muss. Inklusion, erklärt Hans Wocken weiter, meint grundsätzlich „alle, gemeinsam und individualisierend“. Konkret auf das Bildungssystem bezogen heißt das, die inklusive Schule als ein „Haus der Vielfalt“ zu konzipieren, in dem es tatsächlich „normal ist, verschieden zu sein“ (so ein Ausspruch des Bundespräsidenten R.v. Weizsäcker). Die Vielfalt der dort gemeinsam lernenden Kinder spiegelt sich wider in einer Vielfalt des Unterrichts,  einer Vielfalt der Pädagogen und als ganz wichtiges Prinzip der Inklusion eben auch einer Vielfalt der Lernziele. Die inklusive Schule muss Abstand nehmen von der Vorstellung, dass alle Kinder einer Klasse zur gleichen Zeit mit dem gleichen Lehrer das Gleiche lernen müssen und nach gleichen Maßstäben benotet werden.  Zieldifferentes Lernen – eines der Grundprinzipien inklusiven Unterrichts - hingegen bedeutet, dass alle Kinder ihren jeweiligen Möglichkeiten entsprechend gefördert und gefordert werden. Das 'Durcheinander', die Heterogenität einer Klasse wird dann nicht mehr als störend, unerwünscht und Hindernis für einen geordneten Unterricht empfunden, sondern als produktive Herausforderung, der alle Beteiligten unter geeigneten (!) Bedingungen viel Positives abgewinnen können. Abzuschaffen seien dann, führt Wocken aus, die herkömmlichen Klassenarbeiten ebenso wie Noten, Zeugnisse und das 'Sitzenbleiben'. Stattdessen können Lerntagebücher, Portfolios, Selbsteinschätzungsbögen und Entwicklungsberichte Auskunft geben über Fortschritte und Probleme der einzelnen Kinder, bezogen auf ihren jeweiligen individuellen Ausgangspunkt. Ein zentrales didaktisches Prinzip inklusiven Unterrichts stellt das kooperative Lernen dar: In heterogenen kleinen Lerngruppen beschäftigt sich zunächst jeder selbst mit einer gestellten Aufgabe (Think), tauscht sich dann zunächst mit seinem Partner (Pair) und anschließend mit der Gruppe (Square) aus, ehe die gemeinsam erarbeitete Lösung dem Plenum vorgestellt wird (Share). Hier können auch behinderte Kinder über die Bereitstellung geeigneter Materialien und Aufgabenstellungen in Gruppenarbeiten einbezogen werden. Die orientierende Arbeit des Lehrers wird dabei von weiteren pädagogischen Kräften unterstützt (dazu später mehr). (Nebenbei sei erwähnt, dass Konzepte eines solchen zieldifferenten Lernens bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts (!) in der Sowjetunion  erarbeitet worden sind.) In scharfem Kontrast zu dem gängigen Wunsch nach möglichst hoher Homogenität in einem Klassenverband, der ja auch eine Rechtfertigung der Zergliederung des Schulsystems zu sein scheint, veranschaulicht Wocken die wohl weit unterschätzen Qualitäten von 'Durcheinander' anhand bildlicher Darstellungen, die durch ihren Witz sofort und unmittelbar verdeutlichten, dass die Idealisierung des Gleichheitszwangs (nicht nur) in der Schule in Frage gestellt werden muss. Oder ist irgendjemand noch von einem abstrakten Gemälde beeindruckt, dessen unregelmäßig verteilte bunte Quadrate nach dem 'Aufräumen' in geordneten Stapeln erscheinen? Wer würde von einer Buchstabensuppe erwarten, dass die Buchstaben und Gemüsestückchen jeweils zusammen passend und in ordentlichen Linien herum schwimmen? Und wer würde sich in einem Schwimmbad wohl fühlen, wo das ganze fröhliche Chaos zu sorgsam sortierten Reihen aus Sonnenschirmen, Handtüchern, Badetaschen, Menschen, nebeneinander aufgereiht, geordnet worden wäre? 'Inklusion', so lässt diese Versinnbildlichung erahnen, hat, wenn sie gelingt, auch etwas von einem Fest, einem Fest der Verschiedenheit, des So-Sein-Dürfens, des Akzeptierens und Akzeptiert-Seins – die Theorie der egalitären Differenz transponiert ins wirkliche Leben heißt 'Celebrate diversity'. Dies ist die über allem aufscheinende Botschaft von Hans Wockens Plädoyer für Inklusion, das sich nicht nur auf die Schule, sondern auf die gesamte Gesellschaft bezieht. 

Damit Inklusion in der Schule allerdings gelingen kann,  müssen entsprechende (von Wocken konkretisierte) Bedingungen geschaffen werden.Die bisher verbreitete skeptische Haltung von Eltern und insbesondere auch von LehrerInnen gegenüber dem Inklusionsgedanken hat nämlich viel zu tun mit den noch lange nicht vorhandenen Voraussetzungen innerhalb des Bildungssystems und dem kaum erkennbaren politischen Willen, dafür zu sorgen. Das Wissen, wie eine inklusive Schule auszusehen hätte, ist gleichwohl vorhanden. In seinem Vortrag hat Wocken angesichts des Einführungscharakters der Veranstaltung sein Konzept nur in Kürze skizzieren können, mehr dazu ist seinen Veröffentlichungen nachzulesen. Zahlreiche Denkanregungen, detaillierte Überlegungen und praxisbezogene Konzepte finden sich in seinem empfehlenswerten Sammelband 'Das Haus der inklusiven Schule. Baustellen – Baupläne -  Bausteine.' (Hamburg 2011).   Prinzipiell und ganz wichtig gilt, dass Inklusion weder als Parallelsystem zum bisherigen, somit also als noch weitere Ausdifferenzierung (das würde die Idee ad absurdum führen!) noch als Sparmodell (die Gefahr ist in Zeiten klammer Kommunen besonders groß!) gedacht werden darf. Es sei der Hinweis Wockens erwähnt, dass aus der UN-BRK nicht zwangsläufig gefolgert werden könne, das komplette Schulsystem müsse gesamtschulartig verfasst sein – wohl aber sei die Konsequenz, dass allen Schülern, auch den behinderten, alle Bildungsangebote offenstehen müssen (das erwähnte Wocken wohl auch zur Beruhigung der eingefleischten Gymnasiumsverteidiger). Es könne also definitiv gefolgert werden, dass es keine Sonderschulpflicht geben darf! Aussondernde Schulen stellen somit eine Verletzung des Gleichheitsgebots und des Rechts auf diskriminierungsfreie soziale und kulturelle Teilhabe behinderter Menschen dar. Ziel müsse sein, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen, das allen Kindern offen steht, sie willkommen heißt und ihnen ein Recht auf Verschiedenheit sowie Gleichberechtigung in ihrer Unterschiedlichkeit garantiert. Das ergibt sich aus der mit Unterzeichnung der UN-BRK eingegangenen Verpflichtung. Hans Wocken würde denn auch nicht davor zurückschrecken, bei mangelnder Bereitschaft von Seiten des Kreises Soest, die UN-BRK in die Tat umzusetzen,  die UN-Blauhelme wegen Verstößen  gegen die Menschenrechte zu alarmieren... Trotz des offensichtlich scherzhaften Charakters dieser Androhung, waren bei den anwesenden VerwaltungsmitarbeiterInnen denn doch etwas betretene Gesichter zu sehen. Sie alle erkannten wohl, dass sich die Frage nach dem 'Ob' der Inklusion tatsächlich nicht mehr stellt, und die Bewältigung des 'Wie' dieser Verpflichtung mit einigen Herausforderungen verbunden ist.

Dabei ist das  'Wie' der schulischen Inklusion von Wocken bereits konkretisiert worden.Ein inklusives Bildungssystem erfordere, so Wocken, zweierlei Systeme: ein inklusives Regelschulsystem und ein Unterstützungssystem. Das erste System ist zuständig und ausreichend für die Inklusion von Kindern mit Förderbedarfen in den Bereichen Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung, die zur Zeit in die verschiedenen Förderschulen aussortiert werden. Grundsätzlich, so zeigen Beobachtungen, sind es im Lauf ihrer Grundschulzeit etwa 10 Prozent aller Kinder die wegen Beeinträchtigungen in den genannten Bereichen besonderer pädagogischer Unterstützung bedürfen.  In einer einzügigen Grundschule mit vier Klassen mit je 25 Kindern bräuchten dann 10 Kinder die zusätzliche Hilfe von Sonderpädagogen. 

Diese Anzahl entspricht einer durchschnittlichen Klasse an einer Förderschule. In Wockens gedanklichem Planspiel folgt daraus, „dass diese Grundschule dann einen begründeten Anspruch auf eine Sonderpädagogenstelle hat. Für diese 10 Kinder sollte jede Grundschule eine volle Sonderpädagogenstelle mit den Fachrichtungen Verhaltensgestörten-, Lern- oder Sprachbehindertenpädagogik erhalten.“ 

Natürlich muss dann auch die Klassenfrequenz gesenkt werden. Wocken schlägt vor, Förderkinder nicht einfach, sondern doppelt zu zählen (das entspricht der Klassenfrequenz an Förderschulen, die halb so groß ist wie an Grundschulen). In seinem Beispiel besteht eine inklusive Klasse aus 19 nichtbehinderten Kindern und 3 Förderkindern,  tatsächlich also 22 Kindern, die aber als 25 Kinder gezählt werden.  Damit sei die Senkung der Klassenfrequenz kostenneutral. 

Die Ressourcenzuweisung solle systemisch erfolgen, also im Unterschied zu heute nicht abhängig von diagnostischen Etikettierungen einzelner Kinder, denn der Förderbedarf könne ja statistisch gesehen vorausgesetzt werden.  Ein weiterer Vorteil dieses Systems ist, dass Kinder nicht mehr in bestimmte Schubladen gesteckt werden müssen. „Dekategorisierung“ lautet das Stichwort. Die behinderten Kinder sind da, aber eben als Teil dieser bunten, heterogenen Vielfalt der Köpfe: „Der Stempel 'Behinderung' für diese Kinder muss nicht sein; es ist überflüssig und vielfach sogar schädlich. Wir wissen ja eh, dass es an jeder Schule, wo auch immer, diese Kinder gibt, und wir müssen ihre Existenz nicht erst durch eine diskriminierende Etikettierung als Behinderte belegen“. Mit dem Verzicht auf eine Statusdiagnostik wird allerdings nicht auf eine Diagnostik der Kinder überhaupt verzichtet, im Gegenteil,  „eine lernprozessbegleitende Diagnostik hat auch in einer inklusiven Didaktik einen unverändert hohen Stellenwert.“

Für die Inklusion der Kinder mit speziellen (und wesentlich selteneren) Behinderungen im Bereich des Sehens, Hörens, der geistigen, körperlichen und motorischen Entwicklung schlägt Wocken ein zusätzliches inklusives Unterstützersystem vor. Bei Kindern mit diesen speziellen Behinderungen gelte weiterhin der Behinderungsbegriff und solle auch eine Feststellungsdiagnostik durchgeführt werden, damit dann gezielt Sonderpädagogen den jeweiligen Regelschulen, die diese Kinder besuchen, zugeordnet werden können. Dabei würde jeder Sonderpädagoge so viele Kinder betreuen, wie sonst in einer Förderschule. Der große Unterschied besteht darin, dass die Kinder mit speziellen Behinderungen auf verschiedene Klassen und Regelschulen verteilt sind und ihre Förderung durch eine ambulante Unterstützung erfolgt: „Die behinderten Kinder kommen nun nicht mehr zum Sonderpädagogen in die Förderschule, sondern der Sonderpädagoge geht jetzt zu den behinderten Kindern hin.“ Er wird somit quasi zum 'Wanderlehrer', der seine Anstellung in einem 'Förderzentrum' hat (dieses bezeichnet Wocken als 'Schule ohne Schüler'), während die Kinder in ihren festen Klassen in der Regelschule inkludiert sind. Solche mobilen sonderpädagogischen Unterstützersysteme sind bereits, etwa in Hamburg und Bayern, erfolgreich getestet worden.  Auch auf die sicherlich oft gestellte Frage, wie denn die behinderten Kinder unterrichtet werden sollen, wenn gerade kein Sonderpädagoge anwesend ist, gibt Hans Wocken eine Antwort. Die Arbeit der Sonderpädagogen nämlich soll neben dem Unterrichten als weiteren zentralen Bestandteil die Beratungsarbeit vorsehen, d.h. die pädagogische Arbeit für die Kinder in Form von Elternberatung, Mediendienst, Entwicklung von Förderplänen, Koordination sozialer Dienste etc. Vorgesehen sind sogar Förderzentren, deren Tätigkeit in erster Linie aus Fortbildungsangeboten, Elternarbeit, Öffentlichkeitsarbeit, Entwicklung pädagogischer Konzepte und Hilfsmittel und der Dokumentation bestehen wird. Denn das Entscheidende an diesem Ansatz – Regelschule plus Unterstützersystem – ist neben der unmittelbaren direkten Arbeit mit dem Kind die indirekte „systemische Förderung“, die alle einbezieht, die mit dem behinderten Kind zu tun haben, von den Mitschülern über die Eltern bis zu Klassenlehrern, Fachlehrern und Begleitpersonen. Es gilt: „Nicht die behinderten Kinder müssen für das System fit gemacht werden, sondern umgekehrt das System für das behinderte Kind.“ In einem solcherart konzipierten inklusiven Bildungssystem gibt es dann laut Wocken nur noch einen geringen Prozentsatz an Kindern, die das System nicht inkludieren kann: Zur Zeit sind das noch die gehörlosen Kinder, die keine Lautsprache beherrschen und auf Gebärdensprache angewiesen sind, da es (noch) nicht genügend Gebärdendolmetscher gibt. Kinder mit gravierenden Mehrfachbehinderungen, die für ihre optimale Förderung und zur Entlastung der Eltern ein ganztägiges Betreuungsangebot benötigen, können nicht gut in Halbtagsschulen untergebracht werden. Außerdem gibt es Kinder mit einer psychiatrischen Symptomatik und etwa einem hohen Aggressionspotential, die eine sehr kleine Gruppe oder Einzelbetreuung brauchen. Der Weg zu einem, hier nur kurz skizzierten, inklusiven Bildungssystem erfordert sicherlich längere Prozesse und etwas Geduld;  als Initialzündung aber sind der politische Wille und ein (dadurch ausgelöstes) Umdenken in der Öffentlichkeit dringend geboten. 

Das von Wocken konzipierte inklusive Bildungssystem aus Regel- und Unterstützersystem ist zunächst auch in unserem gegliederten Schulsystem denkbar. Eine fortgeschrittene Diskussionsebene wird allerdings, so meine persönliche Überzeugung, Sinn und Berechtigung des gegliederten Schulsystems in Frage stellen, denn der Inklusionsgedanke lässt sich am konsequentesten in der 'Einen Schule für alle' verwirklichen. Nur dann kann nämlich auch Chancengleichheit für die bisher auf Grund von sozialer Benachteiligung in die Haupt- und Förderschulenschulen aussortierten Kinder (etwa aus von Hartz4 betroffenen Familien oder Migrantenfamilien) erreicht werden. So bezog denn auch Wocken explizit Kinder aus diesen gesellschaftlich benachteiligten Gruppen in die Konzeption einer umfassenden Inklusion ein:„Inklusion aber ist mehr als Integration, sie bezieht ausnahmslos alle Kinder in ihrer ganzen Vielfalt mit ein.Eine besondere Aufmerksamkeit muss in einem inklusiven Schulsystem, das dem Anspruch größerer Chancengerechtigkeit genügen will, auf Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder in Armut gerichtet sein. Und nicht zuletzt muss eine inklusive Schule sich auch die Förderung besonderer Begabungen und Talente angelegen sein lassen.“ 

Auf dem Weg nicht nur zu einer inklusiven Schule, sondern auch einer inklusiven Gesellschaft sind alle gefordert: Die Bundes- und Landespolitik, die die entsprechenden Mittel bereitstellen muss, die KommunalpolitikerInnen, für die der Inklusionsgedanke in allen Politikbereichen leitend werden muss, die sozialen Dienste, die Lehrer und Lehrerinnen und alle anderen, die beruflich mit behinderten Menschen zu tun haben, die sich fortbilden und neu orientieren müssen, die Verwaltungen, die durch Mut zur Umsetzung inklusiver Konzepte und gezielte Öffentlichkeitsarbeit den Prozess vorantreiben müssen und ganz wichtig die Eltern nicht-behinderter Kinder, die noch begreifen müssen, dass das Zusammenleben und -lernen mit Behinderten auch ihren Kindern Vorteile bringt. Am wenigsten Schwierigkeiten mit den Herausforderungen, die die UN-BRK beinhaltet, werden die Kinder selbst haben. Denn für Kinder ist Durcheinander immer erstrebenswerter als Ordnung, ist Buntheit und Vielfalt immer anziehender als Gleichförmigkeit, ist jemand, der anders ist als sie selbst, ein Anlass Fragen zu stellen und Neues zu lernen, ist das selbstverständliche Akzeptieren von Verschiedenheit etwas Naturgegebenes – sofern es ihnen nicht irgendwann von Erwachsenen ausgeredet wird. Wenn wir unseren Weg zur Inklusion damit beginnen, von den Kindern zu lernen, sind wir schon ein gutes Stück weiter.

Elisabeth Umezulike

Zitate: Wocken, Hans (2010) „Architektur eines inklusiven Bildungssystems“